Wohnungsnot in Deutschland spitzt sich zu
Der Mangel an bezahlbarem Wohnraum in Deutschland ist groß. Rund 700 000 Wohnungen fehlten im Land, um den Bedarf zu decken, hat das Bündnis „Soziales Wohnen“ errechnet – Tendenz steigend. Mehr Geld allein werde das Problem aber nicht lösen.
Berlin – Die Wohnungsnot nimmt immer gravierendere Ausmaße an. Einer Studie des Pestel-Instituts zufolge fehlen derzeit rund 700 000 Wohnungen. „Es sind vor allem zu wenig bezahlbare Wohnungen da“, sagt der Chef des Deutschen Mieterbunds, Lukas Siebenkotten. Der Leiter des Instituts, Matthias Günther spricht bereit von einem „neuen Notstand bei Wohnungen“.
Wichtigster Grund für den Mangel ist ein hohes Maß an Zuwanderung. Im vergangenen Jahr sind laut Studie etwa 1,5 Millionen Neubürger nach Deutschland gekommen. Zu einer hohen Zuwanderung aus anderen EU-Staaten kamen unerwartet noch viele tausend Flüchtlinge aus der Ukraine. Ein zweiter Grund sind Wanderungsbewegungen innerhalb Deutschlands. Die Ballungsgebiete mit einem großen Arbeitsplatzangebot ziehen Menschen aus ländlichen Regionen an.
Ein „Bündnis Soziales Wohnen“, dem Verbände der Baubranche, Baugewerkschaft und Mieterbund angehören, warnt vor einer weiter steigenden Wohnungsnot. Trotz steigender Nachfrage werde zu wenig gebaut. Die Verbände rechnen mit einem Bedarf von zwei Millionen zusätzlicher Wohnungen bei Mitte des Jahrzehnts.
Das ursprüngliche Ziel der Bundesregierung sieht den jährlichen Bau von rund 400 000 Wohnungen vor, 100 000 davon sollen Sozialwohnungen sein. Würden diese Einheiten tatsächlich gebaut werden, könnte das Problem aus Sicht des Bündnisses bereits in vier bis fünf Jahren behoben sein. Doch auf Basis der Auftragsstudie von ARGE und Pestel-Institut gehen die Verbände und Gewerkschaften davon aus, dass etwa im vergangenen Jahr lediglich rund 20 000 Sozialwohnungen genehmigt worden sind.
Nur jeder zehnte der elf Millionen Berechtigten für einen Wohnberechtigungsschein kann derzeit versorgt werden. Dabei gibt es laut Bündnis beträchtliche Unterschiede zwischen den Bundesländern. Hamburg fördert Sozialwohnungen besonders gut und liegt beim Bau derselben vorne. Auch Bayern, Schleswig-Holstein und Berlin sind hier fleißig. Kaum neue Wohnungen werden dagegen beim Schlusslicht Saarland errichtet.
„Die Bundesregierung ist nicht allein schuld an dieser Misere“, betonte Siebenkotten. Der Ukraine-Krieg habe die Energie- und damit auch die Produktions- und Baukosten in ungeahnte Höhen getrieben. Was es deshalb brauche, seien vor allem mehr Fördergelder und finanzielle Anreize.
Das Bündnis fordert ein Sonderprogramm für den sozialen Wohnungsbau. Denn angesichts hoher Baukosten halten die Experten einen bezahlbaren frei finanzierten Bau von Wohnungen für unrealistisch. Derzeit muss ein Bauherr 4900 Euro pro Quadratmeter Neubau aufbringen. Der Staat müsste den Verbänden zufolge eine Sozialwohnung von 60 Quadratmeter Wohnraum mit 126 000 Euro fördern. Um das Ziel von 100 000 neuen Sozialwohnungen im Jahr zu erreichen, müsste der Bund je nach Energiestandard zwischen 12,6 und 14,9 Milliarden Euro im Jahr aufbringen. Das Sonderprogramm müsse 50 Milliarden Euro dafür bereitstellen, fordert das Bündnis. Rund drei Viertel der Summe solle der Bund aufbringen, den Rest die Länder. „Und das möglichst rasch“, hieß es. Neben dem Sondervermögen müsse die Regierung die Mehrwertsteuer für den sozialen Wohnungsbau von 19 auf sieben Prozent senken. Es brauche außerdem mehr Tempo bei der Bearbeitung von Förderanträgen – was auch mit der mangelnden Digitalisierung der kommunalen Behörden zusammenhänge – sowie schnellere Planungs- und Genehmigungsverfahren.
Der soziale Wohnungsbau war über Jahrzehnte ein fester Bestandteil der Wohnungspolitik in den alten Bundesländern. Ende der 80er Jahre des vergangenen Jahrhundert gab es dort noch rund vier Millionen Sozialwohnungen. In Ostdeutschland sorgte eine staatliche Mietenregulierung für billigen Wohnraum. Der Preis dafür war der Verfall großer Bestände, weil darin nicht investiert werden konnte. Inzwischen ist die Zahl der Sozialwohnungen in ganz Deutschland auf 1,1 Millionen abgesunken. Die Bundesregierung will den Bau günstiger Wohnungen zwar wieder ankurbeln. Doch bisher ist der Erfolg dabei mäßig.
[Merkur, 13.01.2023]