Weg vom Markt
Von Bernd Kastner
Der Markt macht’s, aber er macht es nicht gut. Millionen Menschen in Deutschland tun sich schwer, das Grundbedürfnis Wohnen zu erfüllen. Sie kriegen, was übrig ist, eine kleine Bleibe mit undichten Fenstern an einer lauten Straße – und oft ist die auch zu teuer. Gut drei Millionen Haushalte müssen von ihrem Einkommen 40 Prozent oder mehr für Miete ausgeben, hat das Statistische Bundesamt errechnet. Da reicht es Familien dann oft nicht mehr für gesundes Essen, für einen Wochenendausflug mit den Kindern oder Schulmaterial. In München stieg der Mietspiegel binnen zwei Jahren um 21 Prozent. Studierende haben zu kämpfen: In Berlin etwa schnellte der Preis für ein WG-Zimmer in eineinhalb Jahren um fast ein Drittel nach oben, auf durchschnittlich 640 Euro.
Als technische Aufgabe wird Wohnen derzeit auf der Baumesse in München behandelt. Bevor Architekten und Installateurinnen smarte Häuser schaffen, müssen Politikerinnen und Politiker ihre Arbeit gut machen, eben weil die soziale Dimension des Wohnens so groß ist und damit auch die politische. Je größer der Unterschied zwischen denen in den komfortablen Wohnungen und jenen am Rand wird, desto instabiler wird eine Gesellschaft, desto mehr Einfluss gewinnen extreme politische Kräfte. Die AfD freut sich.
Die Lösung? Bauen, bauen, bauen? Das ist eine Scheinlösung, nicht nur aus ökologischen Gründen. Irgendwann ist keine Wiese mehr frei. Dann sinkt der Preis vielleicht tatsächlich, aber deshalb, weil selbst München als Betonwüste unattraktiv wäre. Man kann weiter an gesetzlichen Möglichkeiten drehen, versuchen, die Preise zu bremsen, die Modernisierungsumlage beschränken. Alles richtig, aber der Trend zur voneinander getrennten Wohngesellschaft stoppt das nicht.
Eine einfache Universallösung gibt es nicht. Aber es ist Zeit, dass Bund, Länder und Kommunen Werkzeuge mit größerer Wirkung einsetzen. Dafür müssen sie nichts neues erfinden, es gibt solche Werkzeuge, an ihnen können sich sogar liberale Marktfreunde erfreuen, weil sie die Eigeninitiative und -verantwortung der Bürger stärken – Baugenossenschaften.
Alter Hut? Ja, genau. Aus dem 19. Jahrhundert stammt das Konzept, heute kommt es mal bieder daher, mal hip, aber es wird für sehr gut befunden. Mieter sind ihre eigenen Vermieter, das Unternehmen gehört seinen Mitgliedern. Nicht umsonst werden alle, die eine Genossenschaftswohnung ergattern, von jenen beneidet, die 20 Euro Miete für den Quadratmeter zahlen. In Genossenschaften hingegen bleiben die Kosten dauerhaft moderat.
Es gibt ein weiteres Modell, das nach dem Prinzip der Eigenverantwortung funktioniert: das Mietshäusersyndikat. Entstanden ist es in den 80er-Jahren in der Freiburger Hausbesetzerszene, längst ist es im Bürgertum angekommen. Knapp 200 Projekte gibt es bundesweit, ihr Motto: „Die Häuser denen, die drin wohnen.“
Das Interesse an Genossenschaften und Syndikaten wächst. Aber auch diese Projekte leiden unter steigenden Grundstücks-, Bau- und Kreditkosten, sie müssen Preise erhöhen und sogar Bauvorhaben absagen. Dem gilt es gegenzusteuern: Die öffentliche Hand sollte diese Selbsthilfeorganisationen viel stärker als bisher unterstützen, sodass sie auch Bestandshäuser kaufen können. Bloß, mit welchem Geld soll der Staat helfen?
Da gibt es Möglichkeiten. Eine wäre, die Spekulationsgewinne drastisch zu reduzieren. Derzeit verdienen Investoren in begehrten Lagen viel, viel Geld, da die Bodenpreise enorm steigen, ganz egal, was sie mit ihren Grundstücken machen. Der Staat sollte diese Gewinne weitgehend abschöpfen. Das würde heftige Debatten auslösen, es ist ein Eingriff ins Eigentum. Aber es gibt kein Grundrecht auf maßlosen Profit.
Die Wertsteigerung des Bodens ist der Leistung der Allgemeinheit zu verdanken. Wenn eine Kommune gute Infrastruktur schafft, profitieren davon bisher vor allem private Investoren. Dieser leistungslose Gewinn sollte nicht ganz abgeschafft, aber doch stark beschränkt werden. So würden nicht nur Spekulation und Wohnkosten gebremst. Mit dem Geld könnte die öffentliche Hand Flächen und Häuser von Privaten kaufen und sie günstig an gemeinwohlorientierte Akteure weiterreichen.
Etwa fünf Millionen Menschen leben in Häuser der 2000 Wohnbaugenossenschaften in Deutschland. Einkommen, Status und Herkunft der Bewohner spielen eine geringere Rolle als üblich. Diese Solidaritätsunternehmen sind zugleich zivilgesellschaftliche Akteure. Natürlich ist auch in deren Hausgemeinschaften nicht alles perfekt, aber oft beleben sie mit ihrem Engagement das sie umgebende Quartier. Diese Initiativen massiv zu fördern, das wäre eine wirksame Antwort des Staates auf die soziale Frage dieser Zeit.
[Süddeutsche Zeitung, 20.04.2023]